Dr. Radke an der Klinik für Kardiologie III der Universität Münster hatte im Juni zusammen mit sinem Team und Kollegen aus den Niederlanden einen neuen Übersichtsartikel¹ zur Gefährdung von EMAH-Patienten durch COVID-19 veröffentlicht. In diesem wird zusammenfassend eine Einstufung für EMAH-Patienten in Risikogruppen vorgenommen und Empfehlung für eine Prävention und bei einer Infektion gegeben (Bericht bei JEMAH im Juni²).

Im Folgenden Interview gibt Dr. Radke nun einen Einblick in die Studie und seine Arbeit mit EMAH-Patienten während der Corona-Pandemie.

JEMAH. Das EMAH-Zentrum Münster hat eine Übersicht über die Risikoeinstufung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH) erstellt und daraus auch Empfehlungen zu Beruf und Ausbildung abgeleitet. Können Sie das Wichtigste für die Betroffenen kurz zusammenfassen?

Radke. Ja, gerne. Unsere Patienten mit angeborenen Herzfehlern fragen uns oft, wie Ihr persönliches Risiko angesichts der Pandemie einzuschätzen ist. Welche Vorsichtsmaßnahmen sind adäquat, welche vielleicht auch übertrieben? Für Ärzte auf (Intensiv-) Stationen sind EMAH-Patienten manchmal eine Herausforderung und es gibt viele Besonderheiten zu beachten. Wir haben uns daher mit Kollegen aus den Niederlanden zusammen getan, um unsere Herangehensweise für diese Patienten und Ihre behandelnden Ärzte zusammen zu fassen.

EMAH-Patienten können aufgrund Ihrer Vorerkrankung im Falle einer COVID-19 Erkrankung ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe haben. Aufgrund der großen Unterschiede der Herzfehler und sekundären Komplikationen sind diese Risiken aber nicht einheitlich. Wir teilen unsere Patienten in Niedrigrisiko-, Mittelrisiko- und Hochrisikogruppen ein. Als Hochrisikopatienten betrachten wir z.B. die mit komplexen zyanotischen Erkrankungen, mit univentrikulärem Herz, Herzinsuffizienz, schwerer Klappenerkrankung oder pulmonaler Hypertonie. Um Infektionen zu vermeiden, empfehlen wir diesen Menschen bei relevanten Infektionszahlen in der Umgebung dann möglichst die physikalischen Kontakte auf ein Minimum zu beschränken, was insbesondere auch bei der Arbeit und in der Ausbildung gilt. Anderen Patientengruppen würden wir geringere Einschränkungen wie eine Umstellung der Tätigkeit zu publikumsferneren Bereichen empfehlen.

Infizierte EMAH-Patienten mit geringem oder mäßigem Risiko und ohne Anzeichen einer Verschlechterung sollten zunächst in der Selbstisolierung zu Hause per Telefon oder Video-Visite betreut werden. Hochrisikopatienten oder Patienten mit Anzeichen einer Beeinträchtigung von Lunge oder Herz und Kreislauf sollten idealerweise in ein EMAH-Zentrum eingewiesen werden. Bei der Behandlung gibt es eine Reihe von Besonderheiten, die nicht jedem Arzt unbedingt geläufig sein müssen: Die Behandlung von Patienten mit zyanotischer Herzkrankheit z.B. sollte sich eher am relativen Entsättigungsgrad im Vergleich zum Ausgangswert und den Blut-Laktatwerten als an der absoluten Sauerstoffsättigung orientieren. Ein anderes Beispiel sind Patienten mit Rechtsherzvergrößerung: Diese haben ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung einer Rechtsherz-Schwäche, da eine mechanische Beatmung und ein akutes Atemnotsyndrom zu einem Anstieg des Lungengefäß-Drucks führen können.

JEMAH. Aufgrund welcher Daten sind Sie zu Ihrer Einschätzung gekommen?

Radke. Wir standen vor dem Problem, dass es bisher kaum belastbare spezifische Studien und Daten zu COVID-19 bei EMAH-Patienten gibt. Gleichwohl musste zeitnah eine möglichst sinnvolle Herangehensweise gefunden werden. Einfließen konnten daher grundsätzliche Überlegungen zu den betreffenden Herzfehlern, Studien zur Behandlung dieser Patienten bei anderen Infektionen und das Management dieser Patienten generell auf Intensivstationen. Dazu kommen die bisherigen klinischen Erfahrungen aus den direkt beteiligten Zentren (Nijmegen und Münster) sowie der intensive Austausch mit anderen EMAH-Ärzten im In- und Ausland.

JEMAH. Wie viele EMAHs haben Sie in Ihrer Klinik behandelt? Wie viele davon hatten einen schweren oder tödlichen Verlauf?

Radke. Die genaue Zahl weltweit von COVID-19 betroffener EMAH-Patienten ist nicht bekannt. Mithilfe von Echtzeitdaten bestätigter COVID-19 Patienten sowie der Anzahl der Patienten mit angeborenen Herzfehlern konnten wir z.B. für den Mai 2020 eine Anzahl von ca. 4800 aktiv infizierten ACHD-Patienten in Europa und etwa 5600 in den USA und Kanada abschätzen. Eine Statistik zu den in Münster und Nijmegen behandelten EMAH Patienten und Ihren Verläufen kann ich Ihnen derzeit noch nicht liefern. Wir sind auch an internationalen Bemühungen zur Sammlung von Verläufen beteiligt und hoffen, damit mittelfristig belastbare Daten zur Auswertung zu haben.

JEMAH. Haben Sie Ihre Erkenntnisse mit Experten anderer Institutionen diskutiert? Wie ist deren Standpunkt und wie sind mögliche Abweichungen zu erklären?

Radke. Wir haben die jetzt beschriebene Herangehensweise sowohl hier im Team als auch in der internationalen Community diskutiert. Da hat es die Länder ja unterschiedlich hart getroffen. Während wir in Deutschland durch die frühen Maßnahmen im Großen und Ganzen kompensiert arbeiten konnten, mussten in manchen Ländern EMAH-Zentren Ihre eigentlichen Ambulanzen zeitweise auf ein Minimum herunterfahren, um der Menge an allgemeinen COVID-Patienten gerecht zu werden. Das hat sicherlich auch einen Einfluss auf den Blickwinkel.

Unterschiede gab es mitunter in der Zuordnung in die jeweilige Risikogruppen. Soll man sich eher nach dem Herzfehler an sich oder am individuellen Ergebnis orientieren? Einig waren wir uns schnell, dass bei hohen Infektionszahlen in der Allgemeinbevölkerung auch mal eine Video-Visite statt eines Ambulanzbesuchs für unsere Patienten sinnvoll sein kann, um das Risiko zu minimieren. Andererseits war uns wichtig, dass über das Thema COVID-19 die vielen anderen möglichen Gründe für Symptome wie Fieber, Husten oder Luftnot nicht aus dem Fokus geraten. Für die Intensivtherapie wurden wichtige Empfehlungen gesammelt, die Unterstützung bei der Therapie geben können.

 

 

JEMAH. In Ihrer Veröffentlichung betonen Sie, dass über Schutzmaßnahmen individuell entschieden werden muss. Wer kann Ansprechpartner für EMAHs sein, um diese Entscheidung zu treffen?

Radke. Wir haben unsere allgemeine Herangehensweise in einem übersichtlichen Ampelschema dargestellt. Das kann eine Orientierungshilfe sein, ersetzt aber nicht den ärztlichen Kollegen, der seinen Patienten kennt und Zusammen mit diesem entscheiden muss. Was man im Einzelfall tun kann, um das Risiko zu reduzieren muss ggf. auch mit dem Arbeitgeber bzw. der Bildungseinrichtung diskutiert werden.

JEMAH. Sollte die Zahl der Infizierten in der Bevölkerung bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen?

Radke. Die lokalen Zahlen verändern das Risiko. Aktuell ist nach der Urlaubszeit mit den jetzt steigenden Zahlen wieder mehr Vorsicht angesagt.

 

JEMAH. Wie können verschärfte Kontaktbeschränkungen oder Selbstisolation dem Arbeitgeber oder der Ausbildungsstätte gegenüber begründet und ggf. durchgesetzt werden? Dies könnte ja, insbesondere in Hinblick auf eine längere Dauer der Pandemie, problematisch sein. Welches Vorgehen empfehlen Sie konkret?

Radke. Da sprechen Sie ein wichtiges Problem an, das kaum allgemeingültig zu beantworten ist. Klar ist, dass am Arbeitsplatz die Einhaltung grundsätzlicher Hygienemaßnahmen gewährleistet sein muss, ansonsten wäre die Aufsichtsbehörde in der Pflicht. Um eine individuelle Risikoreduktion zu erreichen, ist unsere Empfehlung, in erster Linie mit den schriftlichen Empfehlungen des Arztes den Dialog mit dem Arbeitgeber bzw. der Bildungseinrichtung zu suchen. Auch der Kontakt mit dem arbeitsmedizinischen Dienst eines Betriebs kann hilfreich sein. Oft lässt sich so eine kurz- oder mittelfristige Lösung finden. Diese muss dann in Abhängigkeit von den Entwicklungen im Verlauf re-evaluiert werden. Ein komplettes Fernbleiben vom Arbeitsplatz zur Prävention ist tatsächlich schwierig. Da geht es letztlich dann ggf. auch um juristische Fragestellungen. Es würde uns sehr interessieren, welche Erfahrungen Ihre Mitglieder in dieser Beziehung gemacht haben.

JEMAH. Welche Bedeutung messen Sie sozialen und psychologischen Faktoren bei?

Radke. Für alle – aber insbesondere chronisch kranke Patienten – ist die Bedrohungslage der Pandemie mit Ängsten verbunden. Eine Art diesen zu begegnen ist, sich zu informieren und konsequent die Hygieneregeln inkl. des „physical distancing“ umzusetzen. Bei letzterem haben wir auch im Manuskript ganz bewusst auf den ursprünglichen Ausdruck „social distancing“ verzichtet, um zu verdeutlichen, wie wichtig der menschliche Kontakt – und sei es via Internet oder Telefon – zur Überwindung dieser Phasen für uns alle ist.

JEMAH. Ist geplant, Ihre Empfehlungen jeweils dem aktuellen Kenntnisstand anzupassen?

Radke.  Unsere Publikation entstand aus dem Wunsch, die nach derzeitigem Kenntnisstand wichtigsten Punkte für unsere EMAH-Patienten und –Ärzte zusammenzufügen. Neue Erkenntnisse und Medikamente werden mit Sicherheit Änderungen an der aktuellen Vorgehensweise ermöglichen. Ich denke, wir werden da thematisch sicher dran bleiben.

Das Interview mit Dr Robert Radke wurde online von Claudia Richter (Regionalleitung Hamburg) durchgeführt.

Vielen Dank an das Team der Studie und an Robert Radke für das Interview!

Artikel und Links:

1) Radke RMFrenzel TBaumgartner H, et al. Adult congenital heart disease and the COVID-19 pandemic.

2) Beitrag auf unserer Seite vom Juni